Subjektivität und Selbstreflexion; Drei Formen von »Film-Ichs«
By Eva Kuhn
Excerpt of the essay pp. 99–104
III
… Die dokumentierte Realität zeigt sich nicht scheinbar an sich, sondern als eine der technischen und menschlichen Wahrnehmung unterworfene. Der Film Border (F/GB 2005) spielt in der Umgebung des französischen Küstenstädtchens Sangatte in den Feldern und auf den Strassen zwischen dem Eingangsbereich des Eurotunnels und einem Flüchtlingslager, dessen Insassen jede Nacht versuchen, die Grenzsicherungen zu überwinden, um im Zug oder an Bord eines Lastwagens unentdeckt unter dem Ärmelkanal hindurch ins gelobte England zu gelangen. Die Filmemacherin taucht mit ihrer kleinen Digitalkamera in den Feldern und Strassen zwischen dem Flüchtlingslager und dem Eurotunnel-Terminal unter und nimmt Teil und Anteil an den nächtlichen Routen und Routinen ihrer Protagonisten. Sie versteckt sich mit ihnen in den Feldern vor der Polizei und begleitet deren unermüdliche Versuche, sich als blinde Passagiere über die Grenze zu schmuggeln.
Laura Waddington setzt sich den widrigen Umständen aus und nähert ihre physische Situation, ihre Sicht- und Seinsweise an diejenige ihrer Protagonisten an. Als Weggefährtin begleitet sie deren nächtlichen Feldzüge und wohnt ihrem kaum sichtbaren Dasein mit ihrer Kamera bei. Sie interessiert sich im wörtlichen Sinne — ist dazwischen, ist dabei und transformiert das politische Ereignis in ein persönliches Erlebnis. Kein Establishing-Shot erklärt uns zu Beginn das Gelände oder stellt zwischen den Einstellungen einen Zusammenhang her, welcher uns eine Orientierung in den Feldern ermöglicht. Kein Feldherr überblickt die Lage. Mit der Filmemacherin und den Protagonisten bewegen wir uns mittendrin, meist in hohem Gras, zudem nachts — unser Sehen kommt mit ihr und ihrer Videokamera an die Grenzen. Wenn es Licht gibt, dann jenes der vorbeifahrenden Autos, Scheinwerfer der Hubschrauber oder Taschenlampen der Polizisten, welche in den Feldern nach den Flüchtlingen fahnden.
Der Film Border ist durch und durch geprägt von der Präsenz der Filmemacherin selbst. Die Bilder sind sehr eng an ihren Blick und ihre Bewegungen gebunden und das Voice-Over zeugt durch die »Kömung der Stimme«14 von der Person, die hinter ihm steht. Der Kamerablick wird weder anonymisiert, objektiviert, noch wird er mit dem Blick der Protagonisten identifiziert. Sosehr die Filmerin auch die Nähe zu ihren Protagonisten sucht und gewisserweise auch findet — stets bleibt sie eine Andere, eine Außenstehende und als solche reflektiert sie sich in ihren Bildern. Waddington nimmt Teil an einem Leben, das nicht das ihre ist und sie existentiell und sozial nicht direkt betrifft. Der Grenzraum Sangatte, welcher für die Flüchtlinge als Raum des im Sinne Agambens »einschließenden Ausschlusses«15 fungiert, dient der Künstlerin als Refugium, in welchem sie aus Anlass ihres künstlerischen Projektes verweilt. Als freier Geist begleitet sie die unfreien Geister von Sangatte, welche unter dem »souveränen Bann« loopartig zu einem immer wieder neuen Versuch An-lauf nehmen. Für sie ist gleichsam Spiel, was für die Flüchtenden und Jagenden Ernst ist -letztlich ein ästhetisches Spiel im Sinne eines Schau— und Versteckspiels, bei welchem ihr, trotz ihres physischen Engagements, die Rolle der Zuschauerin zukommt. Aufgrund ihrer differenten Seinsweisen kommen ihre Sichtweisen niemals zur Deckung und auf eine filmspezifische Art und Weise handelt Border von dieser Erfahrung der Differenz. Die Bilder zeugen vom ästhetisierenden, distanzierenden Blick der Filmerin und ihrer Kamera, welche beide — zu sehen, zu erkennen und zu verstehen suchend – an der Oberfläche des Sichtbaren gleichsam abstoßen und auf sich selbst zurückgeworfen werden.
Der Film Border ist jedoch nicht nur das Dokument dieser persönlichen Aktion, sondern auch ein repräsentatives filmisches Bild — eine Art Sinnliches Sinnbild — für den beunruhigenden Zustand, in welchem sich diese halbtransparenten, nachtaktiven Schattenwesen am Rande des kollektiven Bewusstseins befinden: ohne Papiere gleich ohne Identität, ohne Gesicht, abgetaucht, kaum sichtbar und ohne festen Boden unter den Füßen,rastlos an Ort und Stelle wandelnd. Laura Waddington schafft mit Border ein Bild für diese kaum sichtbare Gegenwart, ein filmisches Äquivalent für diesen paradoxen Zustand des schlaflosen Stillstandes am Ort des Transits. Den prekären Lichtverhältnissen und den Unebenheiten des Geländes unterworfen, agiert die Kamera an ihren technischen Grenzen und produziert an Ort Artefakte, Bildstörungen, welche den Durchblick zum Dargestellten verstellen. Diese technischen Reaktionen werden sichtbar in einem starken Bildrauschen zum einen, in Verwischungen und Stauungen des Bewegungs flusses zum anderen, was mit der verlängerten Belichtungszeit der Einzelbilder zusammenhängt. Diese beiden Effekte prägen die Ästhetik des Videos und rücken den motivischen Gegenstand in eine ästhetische Distanz. Die einzelnen Einstellungen geben sich nicht aus als die objektiven Abbilder einer gegebenen Situation, vielmehr verweisen sie auf die Bemühungen eines technischen Apparates, welcher – den Bedingungen des Ortes ausgeliefert – in seinem Funktionieren beeinträchtigt ist und seinen Gegenstand vergeblich zu erfassen versucht. Die Gesichter der Protagonisten sind nicht zu identifizieren und ihre Silhouetten bleiben schemenhaft, zerfließen mit dem Hintergrund zu einem schwelenden Rauschen.
Aufgrund dieser medienspezifischen Störungen ist die referentielle Realität nicht offen sichtlich, sondern sie kommt in den Bildern als eine verfremdete, eine verunklärt verklärte, als eine apparativ und subjektiv vermittelte zum Ausdruck. Die Reaktionen der Kamera am Ort des Geschehens verweisen zum einen auf die technische Verfasstheit und die Opazität der Bilder und gleichzeitig tragen sie bei zur Abstraktion des Konkreten, zur Auflösung des Bestimmten in einem Ungefähren, welches auch einer Art Irrealisierung des Realen gleichkommt. Es ist dies eine für einen Dokumentarfilm eher erstaunliche Wendung einer äußeren Realität in eine Innerlichkeit. Die filmischen Bilder zeugen von ihrem Gegenstand, ohne ihn zu zeigen. Beziehungsweise: in Waddingtons Video ist das Zeigen stets mit dem Verbergen verbunden und die Zeugenschafi der Filmerin deutet auf eine Unzugänglichkeit des Sichtbaren hin. Weder erkennen wir Konkretes oder augenfällige Details, noch werden wir in eine stringente Argumentation oder eine kohärente Narration hineingeflochten. Vielmehr werden wir konfrontiert mit sperrigem und bergendem Material — mit viel Dunkel und nicht Erklärtem, das auf eine fragmentarische Art und Weise angeordnet wurde. Diese Herangehensweise mag zum einen von einer medien-ethischen Haltung zeugen: Laura Waddingtons Protagonisten verbergen sich im Rauschen des Bildes, sie schützt sie vor deren Entdeckung, vor ihrer visuellen Bloßstellung und zeigt sie vertraulich, als Geheimnisse. Zum andern erweckt diese Herangehensweise auch den Eindruck einer erkenntniskritischen Haltung. In Interviews spricht Laura Waddington von der Überforderung und dem Gefühl der Nicht-Kommunizierbarkeit dessen, was sie in Sangatte gesehen hat und vom steten Eindruck, dass alles viel komplizierter und komplexer sei als man und sie es verstehen kann: »I knew I could only leave a very small and incomplete trace.«16
Die Artefakte, welche die Kamera aufgrund der kritischen Lichtverhältnisse am Drehort produziert können – so der Vorschlag — als die Spuren eines Bewusstseins gelesen werden — zunächst als die Spuren eines Kamerabewusstseins im Sinne des »kinematografischen Cogito«, das den gezeigten Gegenstand begleitet. Anhand der sichtbaren Eingeschränktheit des Videoblicks und der stets mitgezeigten Materialität erscheint die bildgenerierende Kamera sich selbst stets eingedenk und der gezeigte Gegenstand ist vom zeigenden Medium nicht zu trennen. Durch das später verfasste Voice-Over erhält dieses Kamerabewusstein die persönliche Stimme der Filmemacherin. Die indexikalischen Bilder werden durch die akustischen Erinnerungen an das Erlebnis in Sangatte in eine zeitliche Distanz gerückt und zu erinnerten oder im Traum wiederkehrenden, geistigen Bildern stilisiert. Den Bedingungen dieses Ortes unterworfen, werden filmische Bilder erzeugt, die man als Metaphern für mentale Bilder verstehen könnte, wobei die technischen Beeinträchtigungen die deformierenden Prozesse der Zeit — Verwitterungen oder mentale Verarbeitungen – versinnbildlichen. Als eine, die verinnerlicht und angeeignet wurde, äußert sich die vorfilmische Realität und die videografischen Äußerungen nehmen die Qualität von subjektiven Eindrücken an, von Traumbildern, von Bildern der Erinnerung.
Zu dieser Wirkung trägt bei, dass Waddingtons filmische Gesten am Ort des Geschehens kaum erfassen, was sie zu sehen und zu verstehen versuchen. Dies zeigt sich daran, dass die Kamerabewegungen nicht im Sinne eines klassischen Following-Shots ihrem Gegenstand untergeordnet werden, sondern vielmehr als Gesten sichtbar bleiben, als Handlungen, die ihr Motiv nicht einzuholen vermögen. In Kombination mit den fast abstrakten, entwirklichten Bildern werden diese Gesten zu Bewegungen der Reflexion, sie erhalten die Qualität von Denkbewegungen und mit den insistierenden Kamerahandlungen an Ort nimmt Waddington die traumatische Erinnerung an diesen Ort vorweg. Sie reflektiert die subjektive Erfahrung — ihre eigene und vor allem jene der Protagonisten – in ihrer Nachhaltigkeit. Der Film wird zum Denkmal in zweierlei Hinsicht: zum Denkmal im Sinne eines appellativen »Denk-Mal-Nachs« und Denkmal im performativen Sinne eines Gedenkens: ein Film, dem das Denken als Struktur und Prozess inhärent ist.
Footnotes
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Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme, in: der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: kritische Essays lll, Frankfurt/M. 2005, S. 269-278.
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Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, S. 27.
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Laura Waddington, in einem Interview: Interview Laura Waddington by Olaf Moeller, in: The 5lst Persaro International Film Festival Catalogue (Juni 2005).
Source
Kuhn, Eva. “Subjektivität und Selbstreflexion: Drei Formen von »Film-Ichs«.” In Im Netz der Eindeutigkeiten: Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität, edited by Michael Andres and Natascha Frankenberg. Bielefeld: Transcript Verlag, 2013: pp. 99–104.
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