Laura Waddington

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Border – ein filmisches Gedenken

ODER

Die videografischen Spuren von Laura Waddington

Von Eva Kuhn

Excerpt pp. 26–32

4. Ein Dickicht von Geschichten

In einem Interview macht Laura Waddington den Nachtrag, dass der am Schluss des Films direkt angesprochene Flüchtling ihr in Wirklichkeit ein E-Mail geschrieben habe, um ihr zu erklären, dass er sie damals in Sangatte aus gewissen Gründen angelogen hätte — was seine Lebensgeschichte angeht.58 Sangatte ist Anlass und Ort, an dem sich die harte Realität der Fakten und das Fiktive, Erfundene, Imaginäre beispielhaft vermischen — und dies schon in der nichtfilmischen Wirklichkeit, bevor überhaupt die Kamera mit ihren zusätzlich irrealisierenden Effekten ins Spiel kommt. Sangatte ist ein Dschungel aus verschiedensten Geschichten und allesamt konstituieren sie die Realität des Ortes mit.

Da sind die Medien, die über den Ort berichten, den Stoff durch Auswahl und Aufeinanderfolge zu Aktualitäten und Geschichte organisieren, der Realität Klischees auferlegen und je nach politischen Intentionen unterschiedlich gewichten. Diese medialen Präsentationen ersetzen die direkte Erfahrung und konstruieren —w iederum abhängig von der Konstellation der rezipierten Quellen — unsere Vorstellungen von der Realität des Ortes. Laura Waddington geht hin und macht sich ein Bild, sie macht eine Erfahrung an Ort mit einer nachhaltigen Wirkung und produziert ein Video, mit welchem sie auf den vorherrschenden medialen und politischen Diskurs reagiert. “Often in the media, they only presented facts, that there were all these people trying to get to England and they portrayed it as a kind of assault, an invasion.”59 Gegen diese Form der Inszenierung nimmt die Filmerin Stellung, indem sie ihr eine andere gegenüberstellt —insofern ist die Produktion von Border eine politische Handlung.

An Ort kursieren ebenfalls verschiedenste Geschichten, die sich im Lager verdichten. Jene der Schlepper, um die Preise hoch zu halten, und jene über das Paradies England. Dann gibt es die individuellen Geschichten der Flüchtlinge, welche von ihrer Herkunft und ihren Erlebnissen erzählen — mal mehr, mal weniger in Übereinstimmung mit den Tatsachen. “In Sangatte”, sagt ein afghanischer Exdiplomat, “sagt niemand seinen wirklichen Namen und erzählt niemand seine wahre Geschichte.” Misstrauen sei, aus überlebenstechnischen Gründen, erste Flüchtlingspflicht.60 Die Fiktion hat harte Konsequenzen — schliesslich entscheidet die Präsentation der Lebensgeschichte spätestens beim Asylantrag über das weitere Leben, über das höchst reale Schicksal. Dazu kommt, dass die Betroffenen bestimmte Erfahrungen vorenthalten oder in abgeänderter Form wiedergegeben, weil sie vielleicht zu schmerzhaft sind oder schlicht niemanden etwas angehen.

Wie verhält sich Laura Waddington gegenüber dieser komplexen Wirklichkeit, dem Gegenstand, den sie in einem Video zu verarbeiten sucht? Wie ist das Verhältnis der filmischen Realität von Border zur nichtfilmischen Realität von Sangatte beschaffen? Border ist kein Dokumentarfilm, welcher den Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, mit dem Anspruch, dem Gegenstand auf möglichst vielen Ebenen gerecht zu werden, keiner, der eine schlüssige Argumentation sucht, um das Ereignis möglichst objektiv und lückenlos zu präsentieren. Border sammelt Beobachtungen an Ort nicht für analytische Zwecke, nimmt keine nüchternen Aufzeichnungen in der Art der “Border-Logs” von Ursula Biemann vor, um etwa verschiedene Aktivitäten und Abläufe im Grenzbereich sichtbar zu machen und darauf aufbauend das Verhältnis Ort-Mensch-Bewegung neu zu überdenken oder sich zu fragen, wie sich die menschlichen Routen dem Terrain materiell einschreiben.61 Border erzählt aber auch nicht die wahre, unglaubliche Geschichte eines Protagonisten noch lässt sie verschiedene Flüchtlinge ihre Geschichte selbst erzählen — wie etwa in Passing Drama, der experimentellen Dokumentation von Angela Melitopolus, einem Hörbild, in welchem sich verschiedene Stimmen — Stimmen von Überlebenden der Kleinasiatischen Katastrophe, welche sich in der nordgriechischen Stadt Drama niedergelassen haben — gegen eine fehlende Historie auflehnen, gegen die Historie, welche zugunsten der Mehrheit Minderheiten verschlingt.62 Auch Waddington sucht dem herrschenden Diskurs den Diskurs der Minderheiten entgegenzustellen beziehungsweise die Minderheiten vor dem allgemeinen Vergessen zu bewahren — dazu lässt sie diese aber nicht selbst zu Wort kommen, sondern schafft im Dickicht der Geschichten ein persönliches Gedicht, ein filmisches Gedenken.

5. Ein politisches Ereignis als ein persönliches Erlebnis

In Interviews spricht Laura Waddington von der Überforderung und dem Gefühl der Nicht- Kommunizierbarkeit dessen was sie in Sangatte gesehen hat und dem steten Eindruck, dass alles viel komplizierter und komplexer sei als man und sie es verstehen kann: “I knew I could only leave a very small and incomplete trace. […] In the voice-over, I tried to say very little […] in the hope the audience would keep in their minds the incompleteness of the picture I gave.”63 Border berichtet über die vorfilmische Realität, insofern er in ihr entstanden ist. Waddingtons Bilder sind visuelle Beschreibungen, bebildernde Schilderungen eines Aufenthaltes und eines Weges, welcher die Filmemacherin in den Feldern gemacht hat — filmische Spuren im Dickicht der Geschichten. Kein Establishing-Shot erklärt uns zu Beginn das Gelände oder stellt zwischen den Einstellungen einen Zusammenhang her, welcher uns eine Orientierung in den Feldern ermöglicht. Kein Feldherr überblickt die Lage. Mit der Filmemacherin und den Protagonisten bewegen wir uns mittendrin, meist in hohem Gras, zudem nachts — unser Sehen kommt mit der Videokamera an seine Grenzen. Wenn es Licht gibt, dann jenes der vorbeifahrenden Autos, Scheinwerfer der Hubschrauber oder Taschenlampen der Polizisten, welche in den Feldern nach den Flüchtigen fahnden. Kein allwissender Kommentator beleuchtet die Situation, erklärt uns die politisch vertrackte Konstellation und legt den chronologischen Ablauf der Ereignisse dar, sowie ich dies im vorigen Kapitel versucht habe. Im Voice-Over sind durchaus Informationen über den Gegenstand der Bilder angelegt — die Filmemacherin erzählt Fragmente aus dem Leben und Schicksal derer, denen sie begegnet ist, beschreibt ihre nächtliche Routine und nennt auch einzelne Ereignisse und Stichdaten. Jedoch sind diese Auskünfte und Angaben zur Situation bloss vereinzelt gestreut, liegen nicht im Zentrum des Anliegens und werden durch die Bilder nicht illustriert und bestätigt, wie es in den klassischen Erklärdokumentarfilmen der Brauch ist. Zusammen mit den anderen Gedanken bilden sie neben der Musik eine zweite Spur. Und diese Spur ist immer auch die Spur eines Ichs — keine konventionalisierte und entkörperlichte Stimme, wie jene des souveränen klassischen Kommentators, dessen Äusserungen nicht hinterfragt werden sollen, als blosse Fakten hinzunehmen sind, sondern die Stimme eines betroffenen und anteilnehmenden Subjekts.64

Dieser Betroffenheit einen Ausdruck zu verleihen ist Anliegen der filmischen Arbeit Waddingtons und der Weg dazu ist die filmische Anteilnahme in Form einer körperlichen Involvierung am Ort des Geschehens. Die Filmemacherin knüpft Kontakte und taucht ein in die Felder von Sangatte, nimmt Teil an den allnächtlichen Aktivitäten der Flüchtlinge, wohnt ihren Routen und Routinen bei. Diese Aktion kann eine Geste der Solidaritätsbekundung verstanden werden, als politische Performance gewissermassen. Die filmische Anteilnahme ist jedoch immer auch künstlerische Strategie — ein Weg, um die Bilder beziehungsweise das Rohmaterial für ihr Werk einzufangen.

Insofern sich Waddington mit ihrer Kamera ins Geschehen schickt und sich widrigen Umständen aussetzt ist ihre Arbeit jener des Reporters verwandt — beide schildern sie eine Innenansicht eines Geschehens, die Sicht innerhalb der Felder und beiden geht es um das Ereignis als eine Erfahrung beziehungsweise als ein Erlebtes. Dem Erlebnis sowie der Erfahrung liegt ein Subjekt zugrunde, von welchem das Ereignis auf eine bestimmte Art und Weise empfunden und perspektiviert wird. Im Gegensatz dazu hat das Ereignis keinen Mittler — es geschieht. Anders als Waddingtons Bericht jedoch sucht die Reportage das Ereignis aus der Sicht eines Opfers erlebbar und nachvollziehbar zu machen. Ergänzend werden Interviews eingesetzt, um die simulierte Sicht mit den Gesichtern, den Stimmen und den authentischen Aussagen der Protagonisten zu verbinden.65 Border hingegen enthält keine Interviews, zeigt auch kaum Gesichter und Originalton gibt es bis auf eine Sequenz keinen. Die Flüchtlinge zeigen der Kamera nicht ihr Gesicht — schon gar nicht ihr wahres Angesicht, sie enthüllen keine echten Geschichten und geben keine Geheimnisse Preis. Auf der Ebene der Bilder bleiben sie anonym, schwebende Geister, wandelnde Schattenwesen — beobachtet von dem nahe und doch stets aussenstehenden Auge von Waddingtons Videokamera. Border berichtet offensichtlich aus der Perspektive der Filmerin — inmitten des Geschehens sammelt sie Takes ihrer Eindrücke beziehungsweise hinterlässt auf dem Magnetband Spuren ihres eigenen Erlebens. Diese subjektiven Spuren bilden das Rohmaterial des Videos.

6. Die Feldzüge einer Weggefährtin

6.1. Schleichen und Lauern in den Feldern

Die videografischen Bilder von Laura Waddington, die Elemente oder einzelnen Einstellungen von Border sind Spuren einer Handlung, Dokumente einer Aktion, die ich als filmische Anteilnahme bezeichnet habe. Diese ist einerseits eine Geste der Solidaritätsbekundung und zugleich künstlerische Strategie. Waddingtons Feldzug möchte ich im vorliegenden Kapitel genauer untersuchen.

That year I went with them. We were cutting holes, to permeate the fences. Running through the grass toward the trains. We were trying to reach England over night.

Diesem Auszug aus dem Voice-Over ist zu entnehmen, dass die Filmerin an den nächtlichen Aktionen der Flüchtlinge teilgenommen hat. Sie hat in Sangatte die Nähe und das Gespräch mit ihnen gesucht — im Kommentar spricht sie von ihren Freunden, erzählt Auszüge aus deren Geschichten und in den Bildern ist ein Vertrauen insofern zu spüren und zu sehen, als dass die Kamera den Protagonisten physisch nahe steht, meistens mit ihnen in den Feldern kauert und wartend lauert bis etwas geschieht oder die Ruhe wieder eingekehrt ist. Ein Wink eines Freundes im Sinne von “die Luft ist rein” in ihre Richtung deutet deren Bündnis an, und wenn die Kamera nicht zur Kenntnis genommen wird, so offensichtlich im Einverständnis, denn die Situation würde es kaum erlauben, unbemerkt gefilmt zu werden.66

Laura Waddington bereist ein Feld, sie bewohnt ein Gefilde mit ihrer Kamera und nimmt Teil an dessen alltäglichen Riten und Ritualen — den allnächtlichen Versuchen der Flüchtlinge sich über die Grenze zu schmuggeln. Sie nähert ihre physische Situation, ihre Sichtweise und Seinsweise an diejenige ihrer Protagonisten an, nimmt mit ihrer Kamera deren Haltung ein und imitiert gewissermassen ihren Zustand, ihre Lage. Die Filmerin steht den Feldbewohnern zur Seite, assistiert ihnen bei ihren Streifzügen und nimmt Anteil an deren gegenwärtigem Leben. Sie interessiert sich im wortwörtlichen Sinn — ist dazwischen, ist dabei.67 Mittendrin hat sie keinen Überblick und wenig Kontrolle, sie setzt sich der offenen Strasse aus und taucht in die Felder ein — sie bringt sich in widrige Umstände, in hohes Gras und Dunkelheit und immer wieder verliert sie ihre Weggefährten aus den Augen, manchmal für immer.

With the camera it was difficult — I couldn’t see if trouble comes behind me, and many times out of nowhere a stranger took my hand.

Die Position des Mittendrin beschreibt Michel de Certeau anhand des Fussgängers in New York im Gegensatz zu demjenigen, der dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen wurde und als Ikarus in der 110. Etage des World Trade Centers gestanden sei und die Stadt überschaut hat. Dessen erhöhte Stellung macht ihn zum Voyeur, sie verschafft die Distanz, die ihm als Sonnenauge den Kosmos zu entziffern, zu lesen und zu verstehen erlaubt. “Für einen Moment ist die Bewegung durch den Anblick erstarrt, die gigantische Masse wird unter den Augen unbeweglich.” Dieser Blickpunkt zu sein, sei schon immer Wunsch gewesen – die Maler sind den Möglichkeiten seiner Erfüllung vorausgeeilt, indem sie das alles über- schauende Auge erfunden haben. Und noch heute, wo technische Prozeduren eine alles sehen de Macht organisieren, ist die Vorstellung, ausschliesslich dieser Blick zu sein, stets “die Fiktion des Wissens.”68 Satellitenbilder durchmessen den Raum und repräsentieren nicht länger statische Augenblicke, sondern eine dynamisierte Geografie: “bewegliche und veränderliche Oberflächen, auf denen ein ständiger Fluss von Signalen und Daten die menschliche Migration, Flüchtlingsbewegungen und Grenzüberquerungen anzeigt.”69 Ursula Biemann setzt sich in ihren künstlerischen und kuratorischen Arbeiten mit den bildgebenden Verfahren der Migration süberwachung auseinander — Scannen, Röntgen und Remote Sensing nennt sie als Beispiele von optischen Technologien, die in der Geografie eingesetzt werden, um Migrations Bewegungen zu überwachen und erinnert daran, dass diese Bilder nicht nur eine sekundäre beschreibende Funktion haben, sondern produktiv sind, unentwegt eine neue Visualität produzieren, die bestimmte Begriffe von Globalität, Kontrollierbarkeit und Gouvernementalität suggerieren.70

“Muss man danach wieder in den finsteren Raum zurückfallen, indem sich die Massen bewegen, die – sichtbar von dort oben – dort unten nicht sehen?”71 Gewiss — um die körperlichen Beschwerlichkeiten der Wandernden annähernd nachzuvollziehen, deren individuellen Geschichten zu lauschen beziehungsweise deren physische und psychische Erfahrung in einer angemessenen Art und Weise zu schildern. Der Körper des Fussgängers sei umschlungen von den Strassen, die sich nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden, der Fussgänger — so de Certeau — ist Spieler oder Spielball und wird erfasst vom Wirrwarr der Gegensätze und dem Verkehr. Die Benutzer der Stadt leben unten — da wo die Sichtbarkeit aufhört. Der Stadtbenutzer spielt mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso gut auskennen, “wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft […] entziehen sich der Lesbarkeit. Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken der bewohnten Stadt charakterisierte.”72 In diesen finsteren Raum lässt sich die Filmerin fallen und nimmt an den Praktiken der Feldbewohner und Feldbenutzer teil. Sie nimmt Teil am “perversen Katz-und-Maus-Spiel”73, wobei sie die Rolle der Mäuse mitspielt. Ziel der Mäuse ist es, die Grenze zu passieren und dazu gilt es, die Katzen und deren Augenlichter zu meiden. Aufgabe ist es unentdeckt zu bleiben, sich vor den Taschenlampen der Polizisten und den Nasen ihrer Hunde zu verstecken, sie zu entdecken bevor sie selbst entdeckt werden. Die Filmerin sucht mit den Flüchtlingen den Schutz der Dunkelheit, um bei ihnen zu sein und nicht gesehen zu werden und registriert vorhandenes Licht, um selbst zu sehen. Fährt ein Auto vorbei oder fällt das Licht des Scheinwerfers eines Helikopters übers Land, erhellt eine Taschenlampe eines Polizisten einen Feldausschnitt so gibt es Licht, ansonsten keins oder bloss den schwachen Schein des nächtlichen Himmels. Ein Zustand der Hellhörigkeit und gespannten Aufmerksamkeit beschreibt sowohl die Situation der Filmerin als auch jene der Flüchtlinge. Alle sind sie stets auf Achse — rastlos, ruhelos wachsam wie nachtaktive Tiere.

Footnotes

Source

Kuhn, Eva. “Border – ein filmisches Gedenken oder Die videografischen Spuren von Laura Waddington.” Lizentiatsarbeit, Philosophisch-Historische Fakultät der Universität Basel, Kunsthistorisches Seminar, 2006: pp. 1–110. (Master’s thesis on Laura Waddington’s film Border.)

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