Sangatte Grenze der Welt

Federica SossiJGCinema.org, Italy, February 2005.

Von Federica Sossi

Deutsche Übersetzung von Jana Würfel
 
Laura Waddingtons stilisierte und surreale Bilder sagen uns, was “die Grenze” ist. Nur zwei Farben, Rot und Schwarz. Rot der Himmel und Schwarz die Erde, teilweise auch Schwarz der Himmel und Rot der Boden. Kein Laut, keine Musik, nur ihre Stimme – im Rhythmus mit der Stille – und eine Erzählung, die zu Poesie wird.

Eine Ästhetik der Gegenwart, oder eine Ästhetisierung der Gegenwart, um die Gegenwart zu beschreiben, die Realität der Borders, die Europa und unsere Existenzen umgeben. Border steht für Grenze und Limit einer jeden Erfahrung, auch der unseren, der intimsten. Eine Erfahrung, die die anderen erahnen, überschreiten, umkreisen, ohne wirklich zu wissen, wer wir sind. “Du gehst auf der Strasse und die, die an dir vorbeigehen, wissen nichts von dir, du kannst ihnen nicht sagen, dass du in Sangatte warst.” Border endet mit diesen Worten, auch sie bilden eine Grenze, absolut und nicht zu überschreiten. Und Laura, Regisseurin, die die Bilder geschaffen hat, welche die Distanz zum Zuschauer bilden, ist mitten drin in der Grenze. Im unmöglichen, abgegrenzten Bereich.

Sangatte, Grenze der Welt. Und Sinnbild aller Grenzen der Welt. Durch das Schwarz der Erde bewegt sich die Gestalt eines Mannes, am roten Himmel sind einige noch rötere Punkte zu sehen, fast brennend, am Anfang könnte man denken, es sind Sonnen, es sind jedoch Scheinwerfer. Scheinwerferlicht auf der Gestalt des Mannes, der kein Gesicht und keine Augen hat, er hat einen Körper, jedoch versteckt zwischen den Sträuchern, selbst fast Strauch. Versucht sich zum Strauch zu machen, so wie viele mit ihm und wie Laura mit ihnen, mit ihrer Kamera. Sie rennt, so wie die anderen rennen und wartet zwischen den Strauchgestalten, von denen sie uns kaum ein Bild, fast nur einen Umriss, erkennen lässt. “Manchmal, wenn die Polizei kam und ich sie verloren habe, hatte ich Angst.”

Die Männer, die Laura verloren hat, warten auf einen Zug, auf einen Durchgang, auf die irreale Möglichkeit auf die andere Seite der Grenze zu gelangen. Manchmal verliert jemand einen Arm, ein Bein, jemand stirbt. Der Zug hält nicht an, um sie einsteigen zu lassen, er fährt mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, über die Gleise neben den Sträuchern, verschwindet dann im Tunnel: technischer Stolz der beiden aneinander grenzenden Länder. Sie warten und rennen, wenn die Scheinwerfer ankommen und klettern auf den Zug, wenn sie es schaffen. Wenn sie es nicht schaffen, bleiben sie auf den Gleisen, kehren zurück zwischen die Büsche und auf den Weg nach Hause – wenn sie nicht Arm oder Bein verloren haben beim Versuch, auf den Zug zu kommen. Sie gehen in Gruppen, mit anderen Strauchgestalten, oder aber eskortiert von der Polizei wenn – wie fast jeden Abend – die Männer mit den Uniformen zwischen den Sträuchern neben den Gleisen stehen, um sie aufzustöbern.

Für die Gestalten ist Haus oder Feld das Gleiche. Sangatte, Grenze der Welt. 63.000 Flüchtlinge sind dort hindurch gekommen, in den Jahren, in denen das Feld existierte. Drei Jahre lang, von September 1999 bis Dezember 2002, an der Grenze zwischen Frankreich und England. In der Umgebung des Feldes von Sangatte ist auf einem Autobahnschild in der Nähe von Boulogne-sur-mer zu lesen, dass es bis nach England nur ein Katzensprung ist. Nicht für die Strauchgestalten von Laura Waddington, die uns deren Abende zeigt. Das Rot des Himmels bleibt, auch wenn sich die Kamera dem Boden nähert. Eine neue Silhouette, die eines tanzenden Mannes. Er tanzt hinter einem Gitter, einem Zaun – auch er stilisiert, ohne Gesichtszüge und Augen. Andere Figuren kommen vorbei, in Gruppen, grössere und kleinere, Kinder hinter den Erwachsenen auf dem Rückweg von einem fehlgeschlagenen Versuch des Übergangs, zurück nach Hause, ins Feld.

Flüchtlinge. Afghanen, Pakistani, Kurden. “Ich habe einen kurdischen Professor und seine zwei Kinder kennengelernt” sagt die Stimme ausserhalb des Feldes, “niemand hat sich um sie gekümmert, sie hatten keinen Ort, an den sie gehen konnten”. Flüchtlinge, auch aus anderen Ländern, um die sich niemand kümmert und die keinen Ort haben, an den sie gehen können, wie der Professor und seine Kinder. Genau. Genau der Ort ist das Problem. Alle haben versucht, sich zu Strauchgestalten zu machen, um den Zug zu erreichen, um auf seine Wagons zu springen oder sich daran festzuklammern um dann den Tunnel Richtung England zu durchqueren. Nicht in Richtung eines Ortes, sondern in Richtung der letzen Möglichkeit, einen Ort zu erreichen, den letzten vor der absoluten Leere. Davor andere Gegenden, real für die Einwohner, irreal für sie. Vier oder fünf Länder haben sie durchquert, vermutlich Griechenland, dann Italien, dann Frankreich und dann, dann bleibt nur noch England und dieser Zug, oder eine Fähre neben dem Feld von Sangatte, dem einzigen für sie realen Ort. Bewohner des Feldes, dort nicht Flüchtlinge, aber Abgewiesene. Sangatte, Grenze der Welt. Sinnbild für alle Grenzen der Erde und Europas in einer Zeit, in der Flüchtlinge Abgewiesene und – maximal – Bewohner eines Feldes sind.

Rot der Himmel und Schwarz die Erde, manchmal Schwarz der Himmel und Rot der Boden. Bilder, die das Irreale erzählen, wie in einem Traum, wie ein Albtraum den du in dir trägst, einen intimen Bereich, den die Leute um dich herum nicht vermuten würden. Ein Weg, um von der Realität des Feldes und den Flüchtlingen dieser Erde zu erzählen. Ich weiss nicht, ob er für alle die gleiche Aussagekraft hat. Sicherlich ist es ein Versuch, uns dorthin zu holen, als Strauchgestalt die auf den Zug wartet, als Silhouette eines Kindes oder eines Erwachsenen auf dem Pfad des Feldes – plötzliche Umkehr und Geschrei wenn die Männer, die Gesichter und Uniformen haben, ihre Gewalt und ihre Knüppel nutzen. Diese Gewalt-Szene ist die einzige Szene in welcher die Stille durchbrochen wird und die Personen, auch die Flüchtlinge, ihre reale Körperlichkeit annehmen. Dann lösen sich die Bilder auf, die Flüchtlinge werden wieder zu unbestimmten Silhouetten, dann sieht man nur noch Kleider, dann nichts mehr.

Federica Sossi,“Sangatte, Frontiera del Mondo” JGCinema.org, Cinema e Globalizzazione, www.jgcinema.org, Italy, February 2005